25 sep. 2023I am waiting for the happiness
Foto: Weg zu einem offiziellen Camp, "I am waiting for the happiness", CAPE, © Anne Speltz
Wenige Kilometer trennen auf der griechischen Insel Chios das Geflüchtetencamp von den Ferienunterkünften. Die einen fliegen zum Vergnügen hin, die anderen treibt die Not.
Im Februar 2020 öffnet Erdogan die Grenzen und lässt tausende Geflüchtete in Richtung EU passieren. Sie landen in Griechenland. Kurz davor Anne Speltz, wenn auch als Urlauberin – eigentlich. Beunruhigt über die Situation, beklommen wegen der unvereinbaren Welten, die auf der Insel aufeinanderprallen, entscheidet sie sich, „ein bisschen naiv“, wie sie findet, zusammen mit einer Freundin das Lager aufzusuchen.
Obwohl sie die Bilder von den Lagern aus den Medien kennen, sprengt das, was sie dort vorfinden, alle ihre Vorstellungen. Sie wollen bildlich festhalten, was sie sehen, und entschließen sich zurückzukehren, Tag um Tag.
Es ist der Startschuss für ein Projekt, das die junge Fotografin aus Nörtzingen quer durch Europa in verschiedene Geflüchtetencamps führt und in ihrer ersten Ausstellung mündet, die ab dem 27. September im CAPE in Ettelbrück besichtigt werden kann.
Alltäglichkeit im Ausnahmezustand
„Mich beschäftigen vor allem soziale Ungleichheiten, weil ich sehr oft nicht verstehe, wie sie überhaupt entstehen.“ Antworten sucht Anne Speltz in ihrer Fotografie.
„Ich würde sagen, dass Menschen, die irgendwie unter schweren Lebensbedingungen leben und oft sehr starke Visionen von der Zukunft haben, mich sehr bewegen.“ Schwer sind die Lebensumstände besonders da, wo es keine Perspektiven gibt. An Durchgangsorten, die keinen Durchgang bieten, zum Beispiel. Nach ihrem Aufenthalt auf Chios sucht Anne, teilweise in Begleitung von Lisa Kohl, weitere Geflüchtetencamps bei Calais, auf Lesbos und in Bosnien auf. Mit einer analogen Mittelformatkamera im Gepäck betritt die Fotografin angespanntes Terrain, trifft Menschen, die warten – zwischen zerrütteten Realitäten und unerfüllten Träumen –, die ihren Alltag aber allen Widerständen zum Trotz bewältigen.
Die Fotos, die sie aufnimmt, zeigen dabei nie die Unterkünfte. „Ich versuche, das Thema ein bisschen indirekter anzugehen und trotzdem die Situationen zu dokumentieren.“ Man sieht auf Luftbildern weite Landstriche, fernab von allem. Man sieht auch Bäume, die als improvisierte Wäscheständer dienen, augenscheinlich verlassene Straßenzüge und menschengroße Löcher in Zäunen. „Ich glaube, eines meiner Lieblingsfotos zeigt einen Baum, an dem ein Spiegel hängt und eine Jacke, was so aussieht wie ein provisorisches Badezimmer.“
Anne legt Spuren von Menschen in vermeintlich leeren Landschaften frei, die von einer Alltäglichkeit im Ausnahmezustand zeugen. Daneben werden in ihrer Ausstellung auch übergroße Porträts ausgestellt, denn es sei trotz allem wichtig, auch die Gesichter der Menschen zu zeigen, damit eine Art der Begegnung zwischen Besucher*innen und Geflüchteten entstehen könne.
Die Luxemburgerin studiert Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover und steht kurz vor ihrem Bachelor-Abschluss. Deutlich um respektvollen Umgang bemüht – sowohl in ihren Begegnungen mit den Menschen vor Ort, als auch in ihrer bildlichen Dokumentation des Erlebten –, hinterfragt sie immer wieder ihre eigenen Privilegien und auch ihre Berechtigung, an diesen Orten zu fotografieren.
„I am waiting for the happiness.“
Wer sind die Menschen, die in den Lagern ausharren? Diese Frage beschäftigt Anne Speltz. Auf der Suche nach Antworten interessiert sie weniger das, was uns von ihnen trennt, als vielmehr das, was uns verbindet. Ein einendes Moment findet sie in den Träumen, von denen sie erzählen.
„I am waiting for the happiness.“ Ein Mensch wartet. Sein Glück liegt in den Händen anderer, nämlich derer, die politische Entscheidungen treffen. Das macht Anne wütend.
Das Zitat stammt von einem geflüchteten jungen Mann namens Radwan. „Zu dem Zeitpunkt haben wir Briefe von den Menschen gesammelt, in denen sie ihre Träume und Sehnsüchte beschreiben. Und er hatte etwas geschrieben, was sehr poetisch war.“ Anne kontaktiert kurze Zeit später Radwan, der in dem Moment bereits in England ist, und fragt ihn, ob er sich denn freue, dort angekommen zu sein. Seine Antwort: „I am waiting for the happiness. And I hope it will come soon. Pray for me.“
Der Satz trifft ins Mark und liefert den Titel für die Ausstellung. „Ich habe diesen Satz ausgewählt, weil ich mir vorstellen kann, dass er symbolisch für dieses ganze Gefühl steht, das viele Leute oder Migrant*innen haben, die sich an den EU-Grenzen befinden oder auch bereits in Deutschland oder Luxemburg angekommen sind. Man wartet ständig auf irgendetwas und lebt die ganze Zeit in einer Ungewissheit.“
Die ‚Traumbriefe‘ der Geflüchteten bilden neben den Fotos ein weiteres Medium in der Ausstellung, denn für Anne Speltz stellen sie eine emotionale Brücke dar. Eigentlich, so stellt sie fest, haben wir nämlich alle ähnliche Träume. „Es gibt unterschiedliche Umstände, aus denen wir kommen, aber am Ende streben wir doch sehr ähnliche Dinge an.“
„I want to live like a human“, steht so etwa in einem der ersten Briefe, die sie erreichen. Zwei Jahre später erhält sie einen weiteren Brief, in dem genau dasselbe steht. Andere schreiben über ihren Wunsch, mit ihrer Familie in Sicherheit zu leben, oder über ihr Verlangen, frei von Diskriminierung zu leben oder auch ihre Sexualität frei auszuleben, kurz, die Sehnsucht nach Freiheit.
„[…] nicht ganz so dramatisch, aber dadurch vielleicht ein bisschen gefühlvoller […]“
„Mir ist es wichtig, dass man in der Ausstellung etwas Persönliches entdeckt.“ Anne will „diesen Spalt auflösen, den es gibt zwischen uns und denen, die zu uns kommen.“ Diese imaginierte Distanz macht die Fotografin verantwortlich für die oft fehlende Empathie in Politik und Gesellschaft. Die Menschen stranden Anne zufolge nämlich nicht an diesen Orten, weil sie das wollen. Schuld seien „politische Entscheidungen, die getroffen werden oder nicht getroffen werden.“
Anne Speltz versucht Zugänge zu Gefühlswelten geflüchteter Menschen zu eröffnen und verschafft sensible Einblicke in entfremdete Lebensrealitäten, in denen doch ganz vertraute Alltäglichkeiten gelebt und doch ganz vertraute Träume geträumt werden.
Ob ihre Fotografie Kunst ist oder nicht, überlässt sie den Betrachtenden. Kunstvoll (un)inszeniert stellt sich I am waiting for the happiness trotz allem dar und legt zudem die Sensibilität einer engagierten jungen Fotografin offen, die von einer einfühlsameren und humaneren Migrationspolitik träumt. Vielleicht, so hofft sie, werde manch einem/einer durch ihre Ausstellung ja bewusst, „wie nah diese Leben doch eigentlich an den unseren sind.“
Die Ausstellung I am waiting for the happiness läuft vom 28. September bis 17. Oktober 2023 im CAPE in Ettelbrück. Die Vernissage findet am 27. September um 19 Uhr statt. Der Eintritt ist frei.
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