Biergerbühn - Der Besuch der Alten Dame

29 juin. 2023
Biergerbühn - Der Besuch der Alten Dame

Sélection photos ILL Dame © Patrick Galbats
Artikel auf Deutsch
Autor: Ben Kraemer

Eine alte Dame, die reichste Frau der Welt, Claire Zachanassian (Sascha Ley), kehrt nach 45 Jahren in ihr altes Heimatdorf Güllen zurück und verlangt sogenannte Gerechtigkeit für ein längst verjährt geglaubtes Verbrechen. Es ist ein Stück von ungebrochener Aktualität, neu erzählt und neu verpackt, in dem auch viel Überholtes steckt, das sich dennoch aber – oder gerade deswegen – auch als Schautafel für die Probleme unserer Zeit anbietet. „Et ass nämlech ee Stéck, wou alles dra stécht,“ so die Regisseurin.

In neuem Gewand – buchstäblich – befördert Claire Thill den Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt auf die Bretter des Escher Theaters und holt es dabei ins 21. Jahrhundert. Von Haus aus ist die Namenschwester der Protagonistin Schauspielerin und absolvierte ihre Studien in London und Paris. Heute greift sie weit über die Schauspielerei hinaus und betätigt sich künstlerisch in den verschiedensten Bereichen, sei es nun im Schaffen von Kunstinstallationen, im Schreiben und Inszenieren von Theaterstücken oder in der Entwicklung und Leitung von unterschiedlichen Performances.

Der Besuch der alten Dame, ILL © Patrick Galbats
'Der Besuch der alten Dame', ILL, Escher Theater, © Patrick Galbats

Unter Claire Thills Regie feiert Der Besuch der alten Dame nach erfolgreicher Erstaufführung im Kontext von Esch2022 im Vorjahr am 30. Juni und 1. Juli 2023 ein Comeback im Escher Theater. Das Projekt entstand unter Teilnahme von professionnellen und nicht-professionellen Schauspieler*innen im Rahmen der Biergerbühn, einer Initiative des luxemburgischen Künstler*innenkollektivs Independent Little Lies (ILL).

ILL und Biergerbühn

Wie die Arbeiten der Regisseurin, stehen auch die Independent Little Lies heute im Zeichen der Transdisziplinarität. Ursprünglich wurden die ILL von ehemaligen Schülern*innen und Mitgliedern der Escher Schultheatergruppe Namasté in den 1990er Jahren als Theaterprojekt gegründet, mit dem Ziel auch nach dem Abitur weiter gemeinsam Theater zu machen. Mit den Jahren wurde die Truppe jedoch mehr und mehr zu einem Kollektiv, „well vill Leit eben guer neméi beim Theater bliwwe sinn a sech méi iwwert d’Projeten identifizéieren wéi iwwert den Theater per se.“ Zu ihren Projekten zählen die ILL theatralische, musikalische und tänzerische Produktionen sowie mit der ILL Residenz in der Vergangenheit auch eine Plattform für Nachwuchskünstler*innen.

Eine Initiative, die besonders hervorsticht, ist die Bürgerbühne als partizipatives Theaterprojekt. Entstanden ist sie als Antwort auf einen Aufruf der Fondation Sommer im Jahr 2016, bei dem es darum ging, junge Menschen zwischen 3 und 18 Jahren durch Kunst und Kultur zu „empowern“. Was als Kinder- und Jugendprojekt begann, öffnete 2021 mit den Vorbereitungen des Besuchs der alten Dame jetzt auch die Tore für theaterbegeisterte Bürger*innen aller Altersklassen.

Die Idee, die Biergerbühn auf Erwachsene auszuweiten, existierte bereits von Anfang an, nun bot sich mit Dürrenmatts Klassiker aber die Gelegenheit sie in die Tat umzusetzen. Im Stück spielt die Güllener Dorfgemeinschaft eine tragende Rolle und für Claire Thill war somit klar, „dass een do wierklech Leit hëlt, a keng Leit, déi Leit spillen.“ Bürger*innen spielen demnach Bürger*innen. Damit erhofft sich die Regisseurin eine glaubwürdige Konstruktion der Atmosphäre innerhalb des fiktiven Dorfs.

Bereits Anfang 2021 wurden die Teilnehmer*innen in Workshops unter der Leitung der Pädagoginnen Linda Bonvini und Anja Hoscheit mit den Basics der Schauspielkunst und der Bühne als solcher vertraut gemacht. Im Anschluss daran begann die Arbeit am Text, wobei das Stück zunächst vorwiegend in Parallelproben erarbeitet wurde – d.h. mal mit den professionellen Schauspieler*innen, mal mit den Bürger*innen –, die zu einem späteren Zeitpunkt dann zusammengeführt wurden.

Proben zu Der Besuch der alten Dame, ILL, © Bohumil Kostohryz
Proben zu 'Der Besuch der alten Dame', ILL, Bâtiment IV, © Bohumil Kostohryz

Ein Anliegen der Biergerbühn sei es nämlich, die Trennung zwischen professionellen und nicht-professionellen Darsteller*innen so gering wie möglich zu halten, weshalb man, so Claire Thill, auch auf Begriffe wie „Laien“ oder „Amateure“ verzichte. Zwar seien die Unterschiede nicht von der Hand zu weisen und die Berufsschauspieler*innen finden sich sehr wohl in den Hauptrollen wieder, es sei aber keineswegs so, dass sich die teilnehmenden Bürger*innen nur mit Statist*innenrollen begnügen müssten. Zudem bringen letztere der Regisseurin zufolge nicht selten Qualitäten und Perspektiven mit, die man bei Professionellen ggf. nicht fände. Ein Effekt, der durch die Partizipation der Bürger*innen darüber hinaus erzielt werde, sei ein Verschwimmen der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, womit das Theater als Spiegel ungleich stärker in Erscheinung tritt. Nicht umsonst seien die eindrucksvollsten Szenen für die Regisseurin oft jene mit den Bürger*innen auf der Bühne.

Der Besuch der alten Dame

Eingebunden in den historischen Rahmen des Wirtschaftsaufschwungs in der Nachkriegszeit, haftet dem Besuch der alten Dame eine unverkennbare kapitalismusskeptische Note an. Angesichts der aufkeimenden Konsumgesellschaft der 1950er Jahre sahen kritische Beobachter im damit einhergehenden Materialismus eine reelle Bedrohung für das bestehende Wertesystem, womit sich Dürrenmatt die Frage nach dem Stellenwert und der Wirkmacht, ja gar der korrumpierenden Kraft des Geldes aufdrängte.

Güllen, irgendwo in Mitteleuropa, rund vier Jahrzehnte vor Beginn der Handlung. Die 17-jährige Klara Wäscher wird schwanger von Alfred Ill (Marc Baum). Dieser leugnet die Vaterschaft, woraufhin Klara vor Gericht zieht und Klage erhebt. Mit zwei gekauften Zeugen wendet Ill letztere ab und Klara wird der Stadt verwiesen. Kurz darauf verliert sie ihr Kind und muss sich als Prostituierte durchschlagen, wodurch sie später ihren Ehemann kennenlernt, einen Milliardär, der sie nach seinem Tod schwer beerbt. Als Claire Zachanassian, wie sie sich fortan nennt, kehrt die Verstoßene 45 Jahren darauf nach Güllen zurück und richtet sich an die Dorfgemeinschaft mit einem Angebot: Eine Milliarde für den Mord an Alfred Ill.

Der Besuch der alten Dame, ILL © Patrick Galbats
'Der Besuch der alten Dame', ILL, Eschter Theater, © Patrick Galbats

Entrüstet und mit entschiedener Ablehnung begegnen die Dorfbewohner zunächst dem Angebot der alten Dame. Schnell aber beginnt die moralische Fassade der Gemeinschaft zu bröckeln und freigelegt wird der Blick auf ein marodes System, in dem der Eigennutz regiert und der Profit der Menschlichkeit vorausgeht.

Die Güllener Dorfgemeinschaft wird aber nicht erst durch die Verlockung der angebotenen Milliarde korrumpiert, sondern zeigte sich bereits durch ihre (Mit-)Täterschaft im Prozess und der anschließenden Verbannung der Klara Wäscher von ihrer gewissenlosen Seite. „Ween dréit also wierklech d‘Schold, wann et eng Gesellschaft ass, déi futti ass an déi sou Saachen encouragéiert?“ Die Schuld liegt der Regisseurin zufolge bei dem/der Einzelnen wie auch beim System und dessen Unterstützer*innen.

Für Claire Thill gliedern sich die fiktiven Erlebnisse der Klara Wäscher alias Claire Zachanassian ganz klar in die Geschichte einer Frau ein, die in einer patriarchalen Gesellschaft aufwuchs und durch strukturelle Gewalt in ihrer prekären Lage kein Gehör fand. Erst das Geld brachte ihr die Befreiung aus der Ohnmacht. Durch ihren Machtmissbrauch bekämpft die Protagonistin also „das Patriarchat mit seinen eigenen Waffen“, wie es in der Stückbeschreibung des Escher Theaters heißt. Agiert sie damit aber letzten Endes nicht doch innerhalb des perfiden Systems, spielt nach dessen Regeln und reproduziert sie schließlich nicht doch die Fehler ihrer ehemaligen Unterdrücker*innen?

Einen Ausweg aus dem eindimensionalen Narrativ des Racheengels sucht die Regisseurin in der Umdeutung der Motive einzelner Figuren wie des Butlers (Fabienne Hollwege), der in ihrer Inszenierung weiblich besetzt ist. Die ehemalige Richterin und jetzige Butlerin der alten Dame solidarisiere sich mit letzterer aus moralischer Überzeugung, echter Reue, im Sinne aufrichtiger Wiedergutmachung. Gezeigt werden soll in Claire Thills Neufassung eine kranke Gesellschaft, in der alle unter den bestehenden Verhältnissen leiden, in der es aber auch Hoffnungsschimmer gibt, in der die Protagonistin ihre Menschlichkeit eben doch nicht zur Gänze aufgibt und in der sich Frauen zusammenschließen, mit der Absicht etwas zu verändern.

Am kommenden Wochenende dürfen sich die Schaulustigen in Esch also auf ein visuelles Spektakel freuen, das mit viel Bewegung und zahlreichen Musikeinlagen moralische Fragen von zeitloser Relevanz aufgreift, zugleich aber auch den Blick auf das von Dürrenmatt nicht Adressierte richtet und sich den Themen unserer Zeit nicht verschließt.


Wer selbst einmal Theaterluft atmen, hinter die Kulissen einer professionellen Produktion blicken und dabei tatkräftig mitwirken will, sei herzlich eingeladen, sich zu gegebener Zeit für die Teilnahme an kommenden Projekten der Biergerbühn über das Online-Kontaktformular einzuschreiben.