Inklusion – der Elefant im Raum

05 déc. 2022
Inklusion – der Elefant im Raum

Artikel auf Deutsch
Auteur: Nora Schleich

Ein Gespräch mit Peggy Kind (Mierscher Kulturhaus) und Didier Scheuren (CooperationsART), Mitglieder des Netzwerks „Kultur und Inklusion“

Inklusion – gehört haben den Begriff wahrscheinlich schon so einige, was aber wirklich dahinter steckt, das kann kaum einer nachvollziehen, der nicht auf inklusive Bedingungen als Zugangsmöglichkeit überhaupt und in diesem Fall zu Kunst und Kultur angewiesen ist. Das Netzwerk „Kultur und Inklusion“ ist im April 2021 auf Initiative des Mierscher Kulturhaus entstanden. Zusammen mit kulturellen und sozialen Partnern, wie auch Künstlerinnen und Künstlern sollen inklusive kulturelle Projekte aktiv gefördert und auch verstärkt in die Öffentlichkeit gerückt werden. Dabei spielen Grundsatzdebatten noch immer eine große Rolle, wie beim Treffen mit Peggy Kind und Didier Scheuren deutlich wurde.

Peggy Kind
Peggy Kind © Mierscher Kulturhaus
Didier Scheuren
Didier Scheuren

Grundlegend wird der Begriff Inklusion verwendet, wenn es etwas einzubeziehen oder einzuschließen gibt. Das setzt voraus, dass es ein eigenständiges Ganzes gibt, in das etwas davon Abweichendes eingelassen werden soll. Ist es daher nicht ein fundamentales Problem für inklusive Bewusstseinsarbeit, dass von einer vorausgesetzten Trennung zwischen Menschen mit Behinderung und dem Rest der Gesellschaft ausgegangen wird? Kann Inklusion überhaupt gelingen, wenn die Vorstellung dieser Trennung nicht überwunden, oder wenn sie gar als normal angesehen wird? Das sind schwierige Fragen. Peggy Kind spricht eine wichtige Nuance an: „Es sind nicht die Menschen, die so dermaßen verschieden sind, dass sie voneinander zu trennen wären. Es sind die physischen Bedürfnisse, die nicht die gleichen sind. So sind verschiedene physische, aber auch psychische oder soziale Ausgangsszenarien vorhanden, die es nicht jedem ermöglichen, den gleichen Zugang zu allem zu erhalten.“ Demnach ist die Berücksichtigung der diversen persönlichen Situationen grundlegend, um inklusive Angebote zu schaffen – ein Ausblenden dieser Heterogenität verschließt die Teilhabe am großen Ganzen also eher.

Die Adaptation der Rahmenbedingungen ist das große Anliegen inklusiver Arbeit. Was muss berücksichtigt werden, damit jeder Zugang zu Information, zu kulturellen Angeboten und zum gesellschaftlichen Miteinander haben kann? Wer entscheidet hierbei? Wer kümmert sich um die Umsetzung? „Wenn ein Mensch nicht in ein Gebäude reinkommen kann, kann er nicht bei der Veranstaltung dabei sein. Sogar wenn ein Mensch deren Ankündigung nicht versteht, dann kann er nicht teilnehmen“, führt Peggy Kind weiter aus. Wer demnach akzeptiert, dass es keine inklusiven Adaptationen gibt oder sich gar gegen deren Umsetzung entscheidet, der übt deutlich Macht auf andere Menschen aus. Hierfür kann es in einer Gesellschaft, für die das Miteinander und die Menschenrechte grundlegende Werte sind, keine Toleranz geben. Systemische Diskriminierung heißt das Übel, das vielerorts noch als Tabuthema totgeschwiegen wird. Inklusive Angebote sorgen demnach dafür, dass Invalidität nicht mehr bei alltäglichen Aktivitäten im Weg steht.

Didier Scheuren findet, dass im Bereich der bildenden Kunst, auch in den großen Häusern wie dem Casino und dem MUDAM, bereits öffnende Momente stattfinden – gottseidank, denn im „Kulturentwécklungsplang“ (KEP) ist Inklusion tatsächlich dann doch eher spärlich behandelt. Der KEP ist ein 210-seitiges Dokument des Kulturministeriums, das leider nur auf Französisch verfasst ist, und den inklusiven Gedanken lediglich auf einer Handvoll Seiten reflektiert. „Doch es fängt an um die Sache zu gehen, um Kunst, um Vermittlung, um Kreation“, freut sich Didier Scheuren. Früher wurde eine Ausstellung organisiert, der Künstler schaffte seine Werke heran, es wurden Ausstellungstexte geschrieben und eine Vernissage organisiert. Mittlerweile nimmt man sich mehr Zeit, um mit den Künstlern zu reden und persönliche Situationen zu berücksichtigen und nachzuvollziehen – die gesellschaftliche Zugehörigkeit wird aktiver betrieben.

Das Mierscher Kulturhaus ist einer der Akteure, die das Wort Inklusion deshalb deutlich thematisieren. „Nicht alle Menschen wissen, wie dringlich inklusive Arbeit ist. Wer aber in dem Bereich arbeitet, merkt, dass eine große Notwendigkeit da ist, wieder in den Austausch zu treten, Bewusstseinsarbeit zu betreiben und in der Öffentlichkeit progressiv dafür einzustehen“, bemerkt Peggy Kind.

Dass die Gesellschaft durchaus anpassungsfähig ist, sieht Didier Scheuren in anderen Bereichen: „Mittlerweile gibt es quasi überall vegane oder vegetarische Gerichte, von Hafer- über Sojamilch, jeder der mag, kann seinen Cappuccino so trinken, wie er möchte. Sogar die Personalpronomina sind wandelbar und an das eigene Genderverständnis angepasst: Er, Sie und jetzt auch Dey!“ Die Lethargie im Bereich Adaptation ist also überwindbar. Vorraussetzungen dafür? Neben, wie es im KEP erwähnt wird, politischem Willen, finanziellen Mitteln und Mitarbeitern sind vor allen Dingen Bewusstsein und Ehrlichkeit Voraussetzungen hierfür. „Hat sich im Laufe der Jahre viel geändert? Natürlich wurde viel geredet: Statt Integration sprechen wir jetzt von Inklusion oder sogar Diversity Management – aber hat sich etwas Grundlegendes getan? Nicht wirklich, wir verhaspeln uns in der Sache schnell. Da müssen wir ansetzen, wir müssen lösungsorientiert denken und auch wirklich die Zielgeraden im Augen behalten!“, lautet Didier Scheurens Devise. Ziel ist dabei weniger Inklusion als solche, sondern den ganzen professionellen Kulturbereich so weit zu öffnen, dass die gesamte gesellschaftliche Diversität gelebt werden kann. „Inklusion als Begriff steht dabei für den transformativen Prozess, der in der Gesellschaft stattfindet“, so Didier Scheuren und stellt dabei den dynamischen und proaktiven Charakter der Debatte in den Vordergrund.

Le champ des possibles
Le champ des possibles

Bislang ist das Thema Handicap aber noch nicht selbstverständlich in der kulturellen Öffentlichkeit vertreten, wie Peggy Kind erklärt: „Es ist nicht so, dass Künstler mit Handicap selbstverständlich auftreten, oder dass das Thema Handicap offen auf der Bühne thematisiert wird. Es ist auch nicht gang und gäbe, dass dem Künstler mit Handicap ein Begleiter zur Verfügung gestellt wird, damit er überhaupt kommen und wirkend werden kann!“ Dies zu erreichen verlangt eben offene Diskussion und auch Druck – und das ist natürlich anstrengend und äußerst komplex.

In den Statuten der öffentlichen Instanzen ist der Grundsatz enthalten, dass ihr Angebot jeden erreichen muss. Das Kulturministerium hat dieses Jahr ebenfalls dazu aufgerufen, Projekte umzusetzen, die Kultur für jeden zugänglich machen sollen. Die Kulturhäuser sollen also aktiv den Zugang verbessern und ihre Programme anpassen. Statuten und Projektideen sind aber geduldig: Was heißt es denn eigentlich, ein inklusives Angebot zu schalten?

Theorie und Praxis liegen dabei leider oft auseinander. Es gehört für eine kulturelle Instanz viel dazu, sich auf Anpassung auszurichten. „Man muss die räumlichen Strukturen anpassen, Transportmöglichkeiten neu organisieren, Broschüren in leichter Sprache verfassen, usw. Wenn dies nachhaltig und sinnvoll gestaltet werden soll, verlangt dies nach richtig viel Ressourcen und einer guten Koordination. Intern können wir das gar nicht alles stemmen, auch wenn es in den Statuten geschrieben stehen muss“, gibt Peggy Kind zu bedenken.

Im Mierscher Kulturhaus funktioniert die Kommunikation zum Beispiel jetzt schon in leichter Sprache und in Gebärdensprache, aber müsste man nicht auch eigentlich an Braille denken, um auch Menschen mit einer Sehbehinderung zu erreichen? Auch dies verlangt nach Experten und finanziellen Möglichkeiten. Ohne ein gut funktionierendes Netzwerk an Akteuren funktioniert es nicht, ist sich Didier Scheuren sicher. Man muss die richtigen Leute auf die richtigen Posten setzen: Es gibt unglaublich viel administrativen Aufwand, die ganze Kommunikation muss stimmen, das Monitoring, die eigentliche Arbeit auf dem Feld, all das muss ja auch koordiniert werden – es ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die nicht nur von einigen Wenigen mit innovativen Projektideen angegangen werden kann. Soll sie auch nicht, denn wir reden hier von einer Pflicht, die jedem Miteinander zukommt. Sich um den Anderen zu kümmern, zu teilen, zu helfen, dies sind Werte, die eine Gesellschaft handlungs- und entwicklungsfähig halten. Sowohl das Kulturministerium, wie auch das Familienministerium und das Arbeitsministerium sind deswegen hier aktiv aufgefordert, sich zusammenzutun und die Sache gemeinsam anzugehen.

Das Zeitalter der Inklusion hat gerade erst begonnen, so sehen es Didier Scheuren und Peggy Kind. Um die Entwicklung stetig anzufeuern, muss weiterhin aktiv thematisiert werden. „Momentan scheint es so, als ob man Menschen mit Handicap nicht als Akteure der alltäglichen Gesellschaft wahrnimmt. Sie leben oder wohnen in Betreuungseinrichtungen, zeigen sich eher selten in gängigen öffentlichen Bereichen. Diese Tendenz hat sich so sehr in die Gesamtkonzeption des sozialen Miteinanders eingeprägt, dass sich diese Menschen selbst oft klein halten, sich nicht zeigen, nicht offen rausgehen und Veranstaltungen besuchen. Die Teilhabe am alltäglichen Prozess kann nicht stattfinden, wenn sie weiterhin als problematisch eingeschätzt wird“, reflektiert Peggy Kind. Natürlich erfahren Menschen mit Behinderung oft, was es heißt, an Grenzen und Hindernisse zu stoßen, weil nicht barrierefrei gedacht wurde. Dieser tote Winkel manifestiert sich auch im Selbstverständnis dieser Personen: Wie viel Energie es verlangt, das eigene Selbst wertzuschätzen, wenn das soziale Umfeld sich ignorant zeigt, kann man nur erahnen.

Irreparabel
Irreparabel

Es gibt schon Veranstaltungen, die auf spezielle Bedürfnisse ausgerichtet sind und zum Beispiel eine Übersetzung in Gebärdensprache beinhalten, doch sitzen letztendlich nur wenige Menschen, die dieses Angebot in Anspruch nehmen könnten, im Publikum. Für Peggy Kind ist klar, dass die Gewohnheiten geändert werden müssen. Es ist Aufgabe der Kulturhäuser jetzt progressiv zu kommunizieren, dass Menschen mit Behinderung ausdrücklich willkommen sind und auch auf die geleisteten Adaptationen hinzuweisen, um die Scheu zu mindern: „Die Nachricht muss klar sein: Interessierte Gäste können uns anrufen und fragen, wie es mit der Barrierefreiheit aussieht, den Zugang zum Gebäude einsehen, sich absichern, dass es für sie ein entspannter Abend werden kann, ohne Sorgen, ob sie ihren Sitzplatz erreichen können oder ähnliches. Die Kulturhäuser sollten aktiver auf die Menschen zugehen und sie zu sich ins Haus einladen!“ Ein Beispiel von Peggy Kind macht die Sache besser verständlich: Stellen Sie sich vor, Sie sind zum ersten Mal im New Yorker Flughafen und müssen unter Zeitdruck ihr Gate finden – eine Stresssituation sondergleichen, wenn Sie nicht wissen, wie Sie wohin kommen können!

Didier Scheuren hakt da mit Nachdruck ein: „Das Stigma ist unglaublich mächtig geworden und hemmt dadurch ganz viel Potenzial. Unser Wohlbefinden ist daran gekoppelt, wie uns die Menschen um uns herum wahrnehmen! Wirst du in eine Wohnstruktur gesteckt, in der dann ausgebildete Pfleger halbherzig ihren Job absolvieren und sogar noch Bestrafungsmaßnahmen anwenden; also den Leuten, die auf sie angewiesen sind ganz klar zu verstehen geben, wer hier das Sagen hat und sie in einen Alltag reinzwingen, dann sind wir ganz klar noch im Mittelalter! Wo bleibt dabei das Zuhören? Die Begegnung unter Mitmenschen? Das Teilen des Alltags?“

Kunst und Kultur haben da einen akuten Bildungsauftrag. Dieser Bereich stellt ein Medium dar, in dem das eigene Selbst und das gesellschaftliche Sein hinterfragt und neu gestaltet werden können. Fantasie und Imagination sind keine Grenzen gesetzt, um Zugänge zu Wertvorstellungen und Lebensmöglichkeiten zu reflektieren, neu zu bespielen, zu projektieren – und so Fiktion mit Realität verschmelzen zu lassen. Das hat eine unglaublich wichtige politische Dimension, die nicht nur durch partizipative Möglichkeiten befeuert wird, sondern vorwiegend dadurch, dass dieser Prozess tatsächlich jeden von Anfang an gleichermaßen mit einschließt und einschließen muss – wie sonst sollte eine Gesellschaft sich selbst hinterfragen und neu ausrichten können, wenn immer nur Einige davon zum Zuge kommen und viele Andere außen vor gelassen werden. Das soziale Selbstverständnis, soll es denn ein solches sein, kann nur ein Ganzes sein, denn, wie Aristoteles meinte: Das Ganze ist mehr als nur die Summe seiner Teile. Jedes Individuum ist gleichermaßen Mit-Glied, ansonsten können wir nicht von einem gesellschaftlichen Miteinander oder überhaupt einer Gesellschaft reden.

Das Motto heißt demnach Proaktivität und Ehrlichkeit: Es läuft noch nicht rund. Es gilt von der Theorie wegzukommen und die Praxis zu bespielen, um Teilhabe zu leben. Das Mierscher Kulturhaus setzt vermehrt auf inklusive Performances und sucht aktiv nach Künstlern mit Behinderung, und ja, es wird auch ausdrücklich erwähnt, dass ein Künstler mit Behinderung auftritt. Darauf hinzuweisen ist wichtig, um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und auch, um Menschen mit Beeinträchtigung darauf aufmerksam zu machen, dass dort Menschen mit Beeinträchtigung ihre Kunst anbieten. Das kann Hemmschwellen senken und Interesse wecken. Mitarbeiter werden gezielt geschult, das Gebäude, die Kommunikation und das Angebot werden barrierefrei gestaltet. Es gibt zum Beispiel jetzt auch die Möglichkeit, eine Induktionsschleife anzufragen, um Menschen mit Hörapparaten das Zuhören zu erleichtern. Mit einer Homepage in leichter Sprache befindet sich das Mierscher Kulturhaus noch in der Testphase, zeigt aber, wie wichtig die gelebte Willkommenskultur für jeden Gast und Künstler ist. Zukünftig soll die Kommunikation aber weiter ausgebaut werden. Man denkt zum Beispiel an Audio-Beschreibungen und Brailleschrift für blinde Menschen oder an Internetseiten mit Vorlesefunktion und Videos, die nicht nur die Informationen zum Programm zugänglich vermitteln, sondern auch die Räumlichkeiten im Vorfeld einsehen lassen.

Diese Ansätze in eine Best Practice einzuspeisen und Erfahrungen und Lösungsvorschläge weiterzugeben ist großes Anliegen des Netzwerks „Kultur und Inklusion“. Dass Kulturhäuser und auch Kulturschaffende ihre Arbeiten und Vermittlungsmethoden neu überdenken müssen, bedeutet unter anderem auch, dass es Raum für Selbstreflexion gibt. Man entdeckt neue Winkel, neue Wörter, neue Sphären, die Projekte und Programme tiefgehend bereichern können. Dies bedeutet im Umkehrschluss auch, dass Künstlern mit Behinderung nicht mit einer Art wohlwollendem Mitleid entgegen zu treten ist, sondern dass sie als eigenständige Künstler ernst- und wahrgenommen werden. „Wir müssen aus dieser extrem protektionistischen Blase raus“, meint Didier Scheuren dazu. Natürlich müssen Situationen berücksichtigt werden, aber es muss auch die Freiheit gegeben sein, ohne Vorurteile wahrgenommen zu werden, nämlich so wie man ist und als was man gerade wirkend wird. Das fängt schon bei der professionellen Ausbildung an: Haben Musikschulen und Konservatorien sich darauf eingestellt, auch Menschen mit Behinderung aufzunehmen? Welche Ausbildungsmöglichkeiten gibt es hier?

Mit dem Netzwerk „Kultur und Inklusion“ und der ständigen Bewusstseinsarbeit motivierter Akteure tut sich so einiges, aber vieles muss noch angegangen werden. Beitragen dazu kann jeder einzelne, indem er versucht nachzuvollziehen, sich zu kümmern und auch sich einzusetzen. Die Problematik nicht totschweigen, sondern aktiv ins Rampenlicht stellen, ist dabei ein dringender erster Schritt.

Link zum Netzwerk: https://www.kulturhaus.lu/de/inklusion/netzwerk/36/netzwerk.html

Link zum KEP: https://kep.public.lu/fr/documentation/kulturentwecklungsplang-2018-2028-1-0-derniere-version.html

 

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