Artist-in-residency in Mexico-City – ein Erfahrungsbericht

03 fév. 2021
Artist-in-residency in Mexico-City – ein Erfahrungsbericht

Artikel auf Deutsch
Auteur: Catherine Duboutay

Oktober 2020 war es endlich soweit, der Flug wurde nicht verschoben, die Situation der Corona Neuinfektionen schien stabil und ich saß im Flugzeug von Zürich nach Mexiko-City. Ich hatte mich im vorhergehenden Jahr um eine Stelle in einer Residenz beworben, die mir als Künstlerin die Möglichkeit bot, aus meinem gewohnten Umfeld auszubrechen. Artist-in-residency Programme geben Künstler*innen Zeit zum Nachdenken, Forschen und Produzieren. Während ihres Aufenthalts können Künstler*innen neue Orte und Kulturen erkunden und mit verschiedenen Materialien experimentieren.

Die Residenz in Mexico-City trägt den Namen thelabprogram und wird von Valeria Montoya organisiert, die mich auch während meines Aufenthaltes in meinem Prozess unterstützt hat. Valeria ist ebenfalls bildende Künstlerin und produziert nebenbei auch noch einen Podcast. Das thelabprogram beschreibt sich als ein interdisziplinäres Kunstlabor, das die Praxis der künstlerischen Forschung fördert und seinen Resident*innen die Möglichkeit bietet, die eigene Kunstpraxis zu hinterfragen und durch einen Austausch weiter zu entwickeln.

Den größten Teil der sieben Wochen dauernden Residenz verbrachte ich in dem von der Residenz zur Verfügung gestellten Atelierplatz, der sich im Stadtviertel Escandón befindet. Mein Atelierplatz verfügte über einen großzügigen Tisch, eine Toilette und einer, dem Raum angrenzenden, Dachterrasse, die ich wegen des schönen Wetters oft in meine Praxis einbezog.

© Catherine Duboutay 

Zum ersten Mal traf ich mich mit Valeria am Mercado San Juan, wo kulinarische Besonderheiten Mexikos verkauft werden. Der Markt verfügt über eine große Auswahl an Früchten und Fleisch, die Hauptattraktion sind jedoch die verschiedenen Arten von Insekten: Larven, Grashüpfer, Spinnen und Skorpione werden lebendig und auf unterschiedliche Weise zubereitet als Delikatesse in ganz Mexico verspeist.

Ausgehend von meiner früheren Beschäftigung mit Würmern galt meine Aufmerksamkeit den sogenannten Chinicuiles. Chinicuiles sind Larven aus dem Nord-Amerikanischen Raum, die die Agavenpflanzen befallen und deren Wurzeln sowie das Innere der Blätter auffressen, um sich dann in der Erde in Motten zu verwandeln. In der mexikanischen Küche sind die Larven heiß begehrt und werden zusammen mit Tortillas als Tacos verzehrt. Der Geschmack ist etwas scharf, warum sie auch den Namen Chilacuiles tragen.

Wegen des Verzehrs sind die Larven vom Aussterben bedroht. Dies ist ein Phänomen, das uns zeigt, dass wir als Menschen immer wieder von uns als Zentrum ausgehen und überwiegend in unserem eigenen Interesse handeln. Ausgehend davon, dass auch wir nicht nur Mensch sind, sondern unser Leben von dem Anderer abhängt, müssen wir die Hierarchien hinterfragen, nach denen wir leben.

Im Zuge dieser Überlegungen kaufte ich eine Larve, die meinen Arbeitsprozess der ersten zwei Wochen mitbestimmt hat. Ich habe nach einem Weg gesucht, mit dem Chinicuil zu leben und zu arbeiten, um die Distanz zwischen uns zu verringern.

© Catherine Duboutay 

Die Arbeit mit nicht-menschlichen Lebewesen ist ein Prozess, der nie gleich ist, sich immer wieder verändert. Es ist ein Lernen, nicht Festzusitzen, sondern die geschaffenen Strukturen zu verändern, anthropomorphisierende Charakteristiken zu finden, davon wegzutreten und wiederzukommen, um dann erneut einen Schritt zurück zu machen.

Es ist ein langsamer Prozess, weil es viel damit zu tun hat sich an einen Rhythmus anzupassen, den ich nicht gewohnt bin zu leben. Indem ich mich auf andere Körper einlasse und akzeptiere, dass das Leben, das in den Körpern der Larven steckt, dasselbe ist wie das in meinem Körper; indem ich den Larven Raum und Zeit gebe - um in unseren Konzepten der Welt zu denken -  gebe ich auch mir Raum und Zeit. Während ich mich um sie kümmere, kümmere ich mich auch um mich selbst. Während ich verstehe, dass ihre Körper geboren sind und sterben, verstehe ich, dass mein Körper auch ist. Wir sind beide eine Zusammensetzung des Lebens und werden uns wieder zersetzen, um uns wieder neu zusammenzusetzen, als lebende Materie.

© Catherine Duboutay 

Während ich mich mit diesen Gedanken beschäftige, erkenne ich, dass es keine klare Abgrenzung zwischen unseren Körpern und der Umwelt gibt.
Aus dem Zusammenleben und -arbeiten mit den Larven entstanden Skulpturen, die von den Wurzeln der befallenen Agavenpflanzen inspiriert sind. Diese Skulpturenstruktur aus Keramik, Wachs, Schnur und Metall bildet einen Lebensraum für die zu diesem Zeitpunkt noch verpuppten Larven. Die Skulpturen werden mit organischem Material befüllt, sie bekommen somit eine sich fortwährend verändernde Form. In Verbindung mit den innewohnenden Larven entsteht ein neues Ökosystem, welches sich mit der Zeit verändert. Skulpturen und Larven bilden ein Ganzes und beeinflussen ihr Dasein gegenseitig.

Zusätzlich zu den beschriebenen Skulpturen ist ein Video und eine Publikation entstanden, die sich theoretisch mit den Themen von Menschen und Umwelt mit Bezug auf die Larven auseinandersetzen. In drei Podcast-Folgen wird daneben der Arbeitsprozess mit den Würmern in Gesprächen mit mexikanischen Künstler*innen festgehalten.

Weiterführende Webseiten sind www.catherineduboutay.com resp. www.thelabprogram.com, letztere zeigen ein Video sowie weitere Dokumentationen zu den entstandenen Arbeiten. Das Begleitheft ist über die email-Adresse catherine@duboutay.lu erhältlich.

Die Autorin studiert zur Zeit an der Zürcher Hochschule der Künste (Zurich University of the Arts).